Brief 109: Ich liebe ChatGPT…,

Ich liebe ChatGPT…,

Wir brauchen endlich eine schulische Schreibdidaktik, die erst gar nicht Texte und Schreibhaltungen verlangt, die Menschen durch Roboter ersetzbar machen!

Ein Essay von Judith Wolfsberger

Ich liebe ChatGPT. Denn es wird eine Revolution der Schreibdidaktik in den Gymnasien und Mittelschulen hervorbringen, endlich. Dies ist der point of no return. Die typischen Aufgabenstellungen laut Deutsch-Lehrplan können Roboter perfekt, ja viel besser als Schülerinnen und Schüler ausführen. Nicht die Kids müssen gemaßregelt werden, wenn sie zu dieser praktischen Lösung ihrer Hausübungen greifen, die Lehrpläne müssen schleunigst überarbeitet werden.

Wann, wenn nicht jetzt?
Ich habe mit meinem Sohn eine Deutsch-Hausübung mit ChatGPT versucht. Ein Gedicht zum Thema „Wann, wenn nicht jetzt“. Ich lachte mich schief, wie klischeehaft und fad das in kurzer Zeit ausgespuckte Werk der KI war. Dann machten wir uns gemeinsam daran, diesen faden Text zu verändern, ironisieren, ins Gegenteil zu drehen. In einem „Seriensprint“ zum Thema kam mein Sohn zu der glorreichen Formulierung: „Wann, wenn nicht jetzt schlafen. Ich versäume nichts.“ Ich fragte mich und ihn, ob er seiner Lehrerin sagen sollte, wie dieses Gedicht entstanden ist. Er winkte ab. Ich bin sicher, dass es Lehrerinnen und Lehrern auffällt, wenn Hausaufgaben plötzlich fehlerfrei, perfekt nach der Norm und klischeehaft bis zum Erbrechen sind. Das Lernziel, manisch normierte Textsorten perfekt abzuspulen, war immer schon fraglich und mühsam für alle Beteiligten. Jetzt endlich weg damit!

Sehnsucht
Seit meiner Schulzeit habe ich Sehnsucht nach einer anderen Schule, einer, in der Freiheit, Kreativität und Empowerment ganz oben stehen. Nun muss ich aus der Perspektive der Mutter erleben, dass sich das derzeitige österreichische Schulsystem kaum von dem der 1980er Jahre unterscheidet. Die Lehrpläne der Gymnasien sind jetzt sogar noch vollgepackter mit auswendig zu lernendem „Stoff“ als zu meiner Zeit. Schüler:innen wie Lehrer:innen leiden darunter. Wo bleibt die Revolution? Was Schreiben betrifft, gäbe es so viele Möglichkeiten. Wir im writers´ studio praktizieren seit zwanzig Jahren die ganz andere Schreibdidaktik des angloamerikanischen Raums und erleben, wie Erwachsene und Jugendliche durch freies Schreiben aufblühen, wachsen, sich sortieren, kreativ werden, selbstbewusst und ausdrucksstark.

Deutsch-Schularbeiten
Wenn ich meinem Sohn manchmal dabei helfe, sich für eine Deutsch-Schularbeit in der Oberstufe zu rüsten, bin ich schockiert über die vielen exakten Vorgaben für verschiedene Textsorten, die den Deutsch-Lehrplan seit der „Kompetenzorientierung“ prägen. Auch, wenn ich den Grundansatz dahinter nachvollziehbar und gut finde. Früher war es nämlich so, dass bei Deutschschularbeiten einfach drauflos Aufsätze geschrieben wurden. Ich habe das geliebt in den 1980er Jahren. Ich hatte viele Gedanken im Kopf, gerade als Teenager. Ich kam aus einer Akademikerfamilie, war aufgewachsen mit vielen Büchern und Tischgesprächen über Politik und Gesellschaft. Bei Schularbeiten sprudelte ich drauflos, und hoffte, dass meine Rechtschreibfehler sich in Grenzen hielten. Doch ich beobachtete, wie unheimlich schwer sich viele meiner Schulkolleg:innen bei Deutsch-Schularbeiten taten. Es gab keine Anleitung, keine Beispiele, keine Unterlagen, die zu Hause als Vorbereitung studiert werden konnten. Die „Fünferkandidaten“ hatten stets das Gefühl, dass alles sehr subjektiv war, die Beurteilung, aber auch die Textsorte „Aufsatz“ an sich. Eines ist klar: Wissen über Textsorten ist eine Form der Demokratisierung von Bildung, an der Uni ebenso wie an Schulen.

Neue Munition für die Benotungsmaschine
Es gab also – doch – eine tektonische Verschiebung im österreichischen Schulsystem: Von keinerlei Infos zur Textsorte Aufsatz hin zu einer minutiösen, obsessiven, normierenden Lawine an Vorgaben. Im Deutsch-Schulbuch meines Sohnes wird erklärt, was genau in welchem Absatz oder Satz einer Erörterung stehen muss, welche Formulierungen verwendet werden müssen, wie viele Argumente an welcher Stelle wie vielen Gegenargumenten in welcher Länge gegenüberstehen müssen und wie und wo Ausgangstexte eingebaut werden müssen. Wie gesagt, ich sehe das im Prinzip als sinnvolles Wissen. „Kompetenzorientierung“ wurde aber leider zu einer Manie, die der österreichischen Benotungsmaschine neue Munition gibt. Es macht Sinn, Texte als Beispiele nach ihrer Bauart zu analysieren, ihre spezifische Sprache, Haltung und Argumentation. Aber dies sollte doch nur der Rahmen sein, eine Möglichkeit, eine Orientierung, etwas zum Anhalten, wenn ich es brauche und keine starre Norm, an der Schreibende a. nur scheitern können, die b. langweilig ist und c. am allerbesten von ChatGPT erfüllt wird.

Mein ChatGPT-Albtraum
Welche Probleme uns diese Schreibroboter noch machen werden, können wir noch nicht wissen. Doch wir ahnen, dass es viele sein werden und dass wir Strategien finden werden müssen. Unlängst hatte ich einen Nachttraum, in dem ich plötzlich sah wie in einem öffentlichen Raum – ohne mein Wissen – Texte von meinem PC weiterentwickelt und an die Wand projiziert wurden. In der Früh fragte ich mich, ob auch meine Texte von diesem geschickten Plagiatsroboter verwurstet werden? Hilfe! Und was es bedeutet, wenn aalglatte „perfekte“ Texte, die ihre Quellen nicht anführen, als Wissensgrundlage fungieren werden, mag ich mir gar nicht ausmalen. Aber was ich mir sehr klar vorstellen kann, ist eine Schreibdidaktik in der höheren Schule, die erst gar nicht Texte und Schreibhaltungen verlangt, die Menschen durch Roboter ersetzbar machen!

Schreiben als Empowerment
Die angloamerikanische Schreibdidaktik (an Schulen, Unis und Weiterbildungsinstitutionen seit mehr als 100 Jahren entwickelt, geschärft, verbreitet, umgesetzt) ist per se nicht so produktorientiert wie die hiesige. Es geht um den Schreibprozess, in vielfacher Hinsicht!

  1. Gelehrt und geübt wird der Prozess der Entstehung, Entwicklung, Überarbeitung von Texten aller Art, von der Idee oder Aufgabenstellung zur ersten Rohfassung, mit freundlichem, bestärkendem und klärendem Feedback zu vielen kreativen Überarbeitungsschritten.
  2. Ebenso wird der Prozess thematisiert, wie authentisches, komplexes, selbstbewusstes, gut lesbares und auch freudiges Schreiben gelernt und gelehrt werden kann.
  3. Der hier wichtigste Aspekt der Prozessorientierung sind die Funktionen des – authentischen – Schreibens für die schreibende Person! Freies Schreiben wirkt als Ventil, Klärung, Fokussierung und Ideenfindung. Eigene Erfahrungen, Schwierigkeiten oder Fragen zu einem kompakten Text zu formen, ist zwar ein aufwändiger Prozess, aber für das eigene Sein, Denken und Werden so wohltuend. Freies Schreiben zu vermitteln ist Empowerment. Das Ziel ist, dass möglichst jeder und jede die eigene Stimme – schriftlich – erheben kann. Eigene Positionen, Fragen, Ideen und Geschichten in die Welt hinauszuschicken, um einen Platz zu haben in der Welt und diese auch mitgestalten zu können. Wenn es doch im hiesigen Bildungssystem endlich um Prozesse des authentischen Schreibens gehen würde!

Ich möchte selbst leben
Die Prozesse des authentischen, freien Schreibens können uns Roboter nicht abnehmen. Solche Texte sind Kommunikationsmittel, mit sich und mit anderen; zu kommunizieren ist die Essenz des Lebens. Es wäre ebenso überflüssig, wenn eine KI statt mir die Gespräche mit meiner besten Freundin erledigt. Wer will denn einen Roboter, der statt einem selbst liebt, hofft, weint, erinnert, reist, lebt also? Ich möchte selbst schreibend denken, nach Worten suchen, mich mit Ideen überschlagen, am Papier klagen und Lösungen finden, meine eignen Erfahrungen darstellen, mein Leben schreibend entwickeln. Dies kann mir – wie das Leben – nichts und niemand abnehmen. Es wäre Tod.

ChatGPT zwingt uns nun, Schreiben anders zu definieren und zu lehren!
Wie können wir Jugendliche dazu anregen, Schreiben für sich als Ventil, Ausdrucksform, Ermächtigung, ja Lebensform anzunehmen? Sicher nicht durch dutzende (produktorientierte) Vorgaben, wie ein Text am Ende auszusehen hat und strenge Beurteilung jedes Fehlers. Meine Kollegin Gundi Haigner (Autorin der Mappe „Freewriting – Schreib dich frei“) praktiziert seit 20 Jahren mit ihren Schüler:innen in einer Wiener Mittelschule freies Schreiben. Sie schreiben oft im Unterricht sieben Minuten lang für sich auf, was sie gerade bewegt, stört, interessiert, freut. Wer bin ich und wer könnte ich werden? Die Kids und auch die Lehrerin lesen danach freiwillig Ausschnitte ihrer Texte vor. Gundi Haigner erzählt mir seit vielen Jahren von einer Kommunikation in der Klasse mittels und über Freewriting, die frisch und erfrischend, witzig und berührend ist. Sie lachen, sie freuen sich, sie staunen. Jedenfalls spüren die Jugendlichen, dass es endlich einmal in der Schule um sie selbst geht. Das kann Schule! Schreiben soll auch immer wieder diskret sein dürfen, nur für einen selbst, ein metaphorisches Zimmer für sich allein. So entstehen in der Schule Räume, in denen die Kinder und Jugendlichen zu sich kommen können, sich fassen vor der Welt, für die Welt, und nicht dauernd am Prüfstand stehen. Ich kenne immer mehr Lehrerinnen, die das ausprobieren. Das spannende – und eigentlich logische – ist, dass Schüler*innen, die regelmäßig Freewritings machen, sich bald wie selbstverständlich schriftlich ausdrücken können. Und sogar dann, wenn es sein muss, bessere normierte Texte schreiben!

Mut zu unfertigen, fehlerhaften, werdenden, aber authentischen Texten!
Also: Gute Schreibprozesse haben mit Selbstausdruck, Formulierungsfreude und einem entspannten Flow zu tun. Nichts davon kann uns ChatGPT abnehmen. Wenn Texte bewusst prozessorientiert entstehen dürfen, dann ist auch sofortige Perfektion kein Ziel. Perfektionismus ist, das ist wohlbekannt, der Feind von Kreativität. Sofortige Perfektion – wie bei Schularbeiten in Mittelschulen und Gymnasien verlangt – ist auch unrealistisch. Niemand schreibt druckreif. Texte, die was können – für die Schreibenden und für die Lesenden – entstehen mäandernd, suchend, probierend, sie „fehlern“, sie brauchen Zeit, Feedback und vielschichtige Strategien, wie sie zu einer Vollendung kommen. Erst, wenn es in unseren Schulen und Unis kreative Zeit und wohlwollenden Raum für diese Zwischenphasen des Schreibens geben wird, für das Besprechen und Ehren von Rohtexten und Fertigstellungweisen, wird echte Schreibkompetenz vermittelt! Wir brauchen – jetzt seit ChatGPT und lange schon! – eine prozessorientierte Schreibdidaktik, Mut zu unfertigen, fehlerhaften, werdenden, aber authentischen Texten! Denn gerade in einer Welt mit immer mehr flachen, klischeehaften, zu perfekten, politisch fragwürdigen KI-Texten brauchen wir wache, kreative Geister!

We don´t need no thought control
Ich habe also, was Schulen betrifft keine Angst vor ChatGPT – ich freue mich auf die Revolution.  Wir im writers´studio möchten etwas beitragen zu einer Schule, die so wesentlichen Prozessen und Funktionen des Schreibens, wie dem freien Denken, Formulieren, Spielen, Fehlermachen, Weinen & Lachen, Suchen & Finden im und durch das Schreiben Raum gibt.

Wer macht mit?

Sommerliche Schreibgrüße
Judith

PS: Macht euch bereit: Wir planen über den Sommer heftig neue Seminare, Lehrgänge, Webseiten.. Ab September online und im neuen writers´letter!

 

AKTUELL IM WRITERS´STUDIO

1. Restplätze für Zoom- & Präsenz-Workshops

2. Lehrgänge

  • Schreibtrainer*in werden – Ausbildung zur Schreibtrainer*in nach Methoden aus dem englischsprachigen Raum. Start: Nov 2023 und Jän 2024. Bereits buchbar!
  • Lehrgang Passion Writing, Eintauchen in Kunst, Handwerk & Community des kreativen Schreibens, Start: Herbst 2023, in Planung
  • Neu! 2 Neue Lehrgänge ab Herbst, mehr dazu im August!
  • Lehrgang Spannendes Sachbuch Schreiben, Start: Jan. 2024, in Planung
  • Journal Writing Methoden 2024 – Für Therapeut*innen, Coaches & Leiter*innen von Fokusgruppen /Selbstheilung fördern durch Schreiben/ die innovative Weiterbildung. Start: Januar 2024, in Planung
  • Neu! Lehrgänge aus dem Bereich Schreibkompetenz fürs Business, Start: Jan. 2024, in Planung

3. Kostenlose Infotermine & Infoabende

  • Schreibtrainer*in werden (TIP): Mi, 23. August und Mi, 20. September 2023, jeweils 18 Uhr (Zoom)
  • Alle anderen Infoabende sind noch in Planung. Einen Überblick über alle Infoabende und -Videos gibt es auf unserer Website unter „Alle Infoabende

4. Schreibtreffs